Ein Fragment im Briefe-Nachlass:
Hans Fähnle sieht die große Tizian-Ausstellung in Venedig 1935
Volker Caesar März 2019
Das Städelmuseum Frankfurt zeigt bis zum 25. Mai 2019 »Tizian und die Renaissance in Venedig«. Schon zu Hause kann man sich auf der Webseite des Städel[1] Appetit holen auf dieses Kunstereignis. Vor nunmehr 84 Jahren entwickelte sich auch bei Hans Fähnle großer Appetit, Tizians Werke aus der Nähe und am Schauplatz seines Schaffens zu erleben: Die große Tizianausstellung in Venedig 1935!
1935 ist ein ereignisreiches Jahr für Hans Fähnle: Im Januar entscheidet er sich für Stuttgart als zukünftigen Lebensmittelpunkt. Zunächst haust er im Erdgeschoss eines kalten und viel zu dunklen Wohnateliers in der Cannstatter Eisenbahnstraße. Er knüpft alte Kontakte wieder an und erweitert seinen Stuttgarter Freundeskreis. Den Eltern kann er Anfang Dezember berichten: … Hab nun ein Atelier in Stuttgart Schützenstrasse 21 ... Endlich ein richtiges Atelier 5x6 m und kleinen Nebenraum und Flur mit eigener Glastüre. Ist zu laufen vom Hauptbahnhof nur ca. 5 Minuten, Blick ist wunderbar über die Stadt. … Bis zur Kriegszerstörung 1944 ist dies Fähnles Wirkungsstätte.
Noch kurz vor dem glücklichen Aufspüren seines neuen Ateliers entflieht Fähnle seiner kalten Cannstatter Wohnung und reist nach Venedig. Dort hat im April König Viktor Emanuel III. die große Tizian-Ausstellung eröffnet, die mit rund 100 Gemälden und Zeichnungen das Lebenswerk des berühmten Venezianers präsentierte.[2] Höchste Zeit für Hans Fähnle in die Lagunenstadt aufzubrechen, denn Anfang November soll die spektakuläre, hochversicherte Ausstellung zu Ende gehen. Die vom langjährigen Leiter der Ca‘ Pesaro, Nino Barbantini, kuratierte Tizian-Ausstellung wird für lange Zeit Vorbild für "große Ausstellungen" (1937 zeigt Barbantini ‚Tintoretto‘).
Nicht nur die Ausstellung selbst sondern auch der Ort ihrer Präsentation war spektakulär: Der barocke Palast Ca‘ Pesaro am Canal Grande, 1659 im Auftrag des Dogen Giovanni Pesaro von Baumeister Baldassare Longhena begonnen, konnte nach wiederholter Unterbrechung erst 1710 fertiggestellt werden. Seit 1902 ist er der herausragende Ausstellungspalast der Stadtgemeinde Venedig.
Das Fragment
Von Fähnles Aufenthalt in Venedig zeugt das Fragment einer Postkarte mit Poststempel VENEZIA FERROVIA und dem Datum 9. Oktober 1935. Selbst als Fragment gibt die Karte noch verlässlich Auskunft - die zweite Kartenhälfte ist vielleicht einem „Briefmarkenraub“ zum Opfer gefallen. Den Gruß an seine Mutter notiert Fähnle mit Bleistift auf einer Kunstpostkarte der Tizianausstellung. Deren Bildseite ziert Tizians Ölgemälde "Tobia e L'Arcangelo Raffaele“ (Tobias und der Engel, um 1545-49, in der Chiesa di San Marziale)[3].
Venezia-Lido, Via Cipro 20.
L. Mutter, seit vorigen Donnerstag wohne ich bei Ulrich Elsenhans m. alten Conpromotionalen [4]am Lido. Geht mir ausgezeichnet. Über Samstag-Sonntag fahre ich nach Florenz. Anfang nächster Woche über Gardasee zurück. Hoffe, Ihr seid alle gesun[d …] wohlauf! Ist Vater sch[…] zurück? Herzlichste […] auch an Gotthold De[…]
u. Vater
Mitte nächster Woche […] wieder in Überl. sein […]
Hans Fähnles Venedigreise dauert knapp 2 Wochen, etwa vom 3. bis 15. Oktober 1935. Er hat das unverschämte Glück, sich in Venedig nicht einmieten zu müssen. Unterkunft findet er bei dem gleichaltrigen Ulrich Elsenhans, mit dem er in Urach dieselbe Schulbank gedrückt und 1922 die Reifeprüfung abgelegt hat. Beide gehören zu den Absolventen des Evangelisch Theologischen Seminars, die nicht Pädagogen oder Theologen sein wollten.
Das Haus/die Wohnung von Ulrich Elsenhans in der Via Cipro 20 auf dem Lido ist auch heute noch ein idealer Ausgangspunkt für Exkursionen in die Lagunenstadt. Am nördlichen Ende des Lidos begleitet die Straße einen kleinen Seitenkanal, der an beiden Ende mit der Lagune verbunden ist. Die Fähren zur Stadt erreicht man in wenigen Gehminuten und zum Vergnügen liegt ein eigenes kleines Boot am Kanal. Das zu den kleineren Anwesen in diesem ruhigen Quartier zählende Haus scheint die Jahrzehnte weitgehend unverändert überstanden zu haben.[5]
Reisebericht an den „großen“ Bruder
Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Italien schildert Hans Fähnle aus Überlingen seine frischen Reiseindrücke. In ihrer Liebe zur Kunst verbunden tauschen sich die Brüder in ihren Briefen regelmäßig über Erlebtes, Gesehenes und Empfundenes kunstkritisch aus. Zwei Jahre zuvor hatte Ernst Fähnle[6] auf einer ausgedehnten Radtour durch Deutschland mehrere große Museen und Ausstellungen besucht und sandte dem „kleinen“ Bruder einen ausführlichen Brief.
17. Okt. 35. Überlingen.
Lieber Ernst,
seit gestern bin ich wieder von Italien zurück. – Ich hab die ganze letzte Zeit bei meinem ehemaligen Compromotionalen und Nebensitzer Elsenhaus in Venedig gewohnt. Sonst hätt ichs mit meinen paar Mark keine 8 Tage ausgehalten. Mit einer Sonntagsfahrkarte war ich noch in Florenz, das voll ist der unglaublichsten Kunstschätze. Palazzo Pitti, Uffizien und Mediceerkapelle (Plastiken Michelangelo’s), vor allem Raffael hab ich sehr studiert, ist mit etwa 20 Hauptwerken vertreten. In den Uffizien ist selbst Dürer, Rembrandt, Liebermann gut vertreten.
In der Tizianausstellung in Venedig war ich bald 20 mal, zu jeder Tageszeit und Beleuchtung. Ein paarmal hatte ich schon ganz großartige intensive Eindrücke. Ansonsten ist das Venedig eine ganz märchenhafte Stadt, fast ganz aus Marmor und lauter Kanälen. Das Licht und die Farben sind unglaublich, unwahrscheinlich schön und klingend. Ich hab ein paarmal an Dich gedacht und daß wir später eine Reise nach Italien miteinander machen. Die Fahrkarte von Chiasso bis Sizilien hinunter kostet ca. 250 Lire ungefähr 50 M-. Doch lässt sich für die nächste Zukunft zu wenig sagen, höchstens so viel, daß wir uns auf allerhand gefasst machen können. …
Italien das Land an sich hat mir so einen guten Eindruck gemacht, daß ich verstehen kann, warum seit der Völkerwanderung die Deutschen immer wieder hier runter drängen. Wenn Du wieder über den Gotthard zurück fährst, hört das Leuchten auf
und alles wird härter und grauer.
Nur daß man die Sprache da unten nicht kann, lässt einen doch sehr empfinden, daß man in der Fremde ist. Man kommt aber mit Deutsch und Französisch leidlich durch.
Von Elsenhans’ Haus aus, das am Lido liegt, hab ich mit seinem Ruder- und Segelboot häufig Partien auf die Lagune hinaus gemacht nach Murano, Porcello u. Malamocco, es hat da viele Inseln und die Lagune ist insgesamt nicht viel kleiner als der Bodensee.
Vom Krieg[7] merkt man in Venedig wenig, der Venezianer hat wenig Begeisterung für so was, anders in Mailand und Rom. Kriegsschiffe, viel Militär und Miliz, Militärflieger und die Forts mit den langen Kanonen ist das Einzige, was einem auffällt.
Jedenfalls bin ich sehr befriedigt von dieser ganzen Reise, vor allem hat mir gut getan, mal wieder ganz große Kunst zu sehen.
In Zürich bin ich auf dem Rückweg ausgestiegen und hab die dortige Ausstellung schweizer Maler angesehen[8]. Das Beste ist frisch dekorativ (auf der Linie Matisse, überhaupt stark französischer Einfluss), im Ganzen wird man den Eindruck einer gewissen Oberflächlichkeit und Problemlosigkeit (menschlicher Spannungslosigkeit) nicht los. –
…
Anfang nächster Woche fahr ich wieder nach Cannstatt, höchste Zeit, daß ich mal wieder was verdiene. Bin gespannt, wie ich mich da weiterhin durchschlage. Wenns geht, werd ich mir[9] nach einem helleren Raum sehen. Ich schreib Dir dann wieder mal. Lass auch einmal ein bischen von Dir hören und nimm für heut die herzlichsten Grüße von
Deinem getreuen Hans
Der Druck der Nazis auf den Kunstbetrieb nimmt Mitte der 30er Jahre weiter zu. Zu einer vorübergehenden Verlangsamung trägt allenfalls der internationale Blick auf Deutschland vor und während der Olympiade 1936 bei[10] und erleichtert vermutlich Hans Fähnles große Ausstellung im Stuttgarter Kunsthaus Schaller 1936, allerdings auch seine letzte für die kommenden zehn Jahre. Ab 1937 nehmen die schmerzhaften Einschränkungen künstlerischer Freiheit rapide zu.
Für das Jahr 1935 darf Fähnle jedoch für sich noch eine positive Bilanz ziehen: Er wird „sesshaft“, findet in Stuttgart einen Sammlerkreis für seine Bilder und zieht zum Jahreswechsel in sein neues Atelier. Mit der Reise nach Venedig und Florenz belohnt er sich rechtzeitig selbst und erweitert zugleich seine in Berlin, Kassel, Paris und Frankfurt erworbene Kennerschaft „Alter Meister“.[11] In seiner Überlinger Handbibliothek zeugt von dieser ergiebigen Kunstreise der Katalog: Mostra di Tiziano Venezia 1935.
Den Katalog erwirbt Fähnle damals in der italienischen Originalausgabe. Bei den wiederholten Ausstellungsbesuchen hat er sein Exemplar immer zur Hand (… In der Tizianausstellung in Venedig war ich bald 20 mal, zu jeder Tageszeit und Beleuchtung…). Das besondere Interesse gilt auch diesmal dem eingehenden Studium von „Farbtechnik und Farbkultur“. Die bei Tizian beobachteten Farbtöne und Farbwerte notiert Fähnle mit Bleistift direkt neben und in die schwarz-weißen Katalogabbildungen. Das ermöglicht ihm, den gewonnenen Farbeindruck des Originals verlässlich in Erinnerung zu rufen.
[1] Städelmuseum Frankfurt: https://www.staedelmuseum.de/de/tizian-renaissance-venedig
[2] “Il re inaugura la mostra di Tiziano”. Istituto Luce Cinecittà, veröffentlicht 15.06.2012: https://www.youtube.com/watch?v=B7N4lSxgM-A
[3] Werkübersicht: https://venicewiki.org/wiki/Tiziano_Vecellio
[4] Ulrich Elsenhans (1903-1979), Mitabiturient Hans Fähnles im Ev. Theologischen Seminar Urach 1922; später Prokurist, verstorben in Vermes/Schweizer Jura
[6] Ernst Paul Georg Fähnle (1899-1984), Dipl.-Landwirt und Bildhauer
[7] Italienisch-Äthiopischer Krieg (1935–1936), sog. Abbesinienkrieg
[8] Kunsthaus Zürich: http://www.kunsthaus.ch/de/information/ueber-uns/geschichte/
Ausstellung Schweizer Maler: Evtl. anlässlich der Schenkung Hans E. Mayenfisch; Sammler und Förderer von schweiz. Gegenwartskunst und Mäzen des Zürcher Kunsthauses, dem er 1929 seine Sammlung und die Anwartschaft auf seine künftigen Erwerbungen vermachte. 1932-53 Vorstand der Zürcher Kunstgesellschaft/Kunsthaus. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D27745.php
[9] Achtung, Schwäbisch!
[10] Vgl. die Beobachtungen Samuel Becketts während seiner kunstgeschichtlichen Deutschlandreise 1936/37: Erika Tophoven. Becketts Berlin, 2005.
[11] Hans Fähnle Berlin 1929: … Nächste Woche fang ich an, jede Woche einen Tag im Kaiser-Friedr. Museum [heute Bode-Museum] zu kopieren. … Tizian hätte ich gern kopiert, aber die 3 Bilder
von ihm sind bis nächsten Sommer schon im Voraus von Kopisten belegt, überhaupt fast allen den Bildern, die ich gerne kopieren würde, ist aus erst genanntem Grund in absehbarer Zeit nicht beizukommen. … Die Venezianer und Rubens, die liegen mir, man kann, was Farbtechnik und Farbkultur anbelangt, unheimlich viel bei ihnen lernen…
1935 Hans Fähnle. Tizian in Venedig.pdf
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